Triage

-I-


Dong. Dong. Dong.


Das Idiophon im schlecht beleuchteten Hintergrund des großen Raumes schlug drei Mal. Ein jeder der schallenden Laute stieß einen rostigen Nagel tief in ihren kahlrasierten Schädel, sie konnte förmlich spüren wie das bloße Geräusch niedrigfrequenter Schallwellen ihre Knochen penetrierte und versuchte, die letzte Standhaftigkeit zu rauben. Es war keine Frage, dass das hier ein Teil des perversen Tests war. Eine allerletzte Prüfung, die den Singsang verrückter Gossenpropheten imitieren sollte, um erahnen zu können, ob ihre Sicht nun endlich korrigiert war, oder ob weitere Nagelstiche erforderlich wären.


Träge sank ihre Stirn nach vorn und verfrachtete die eigene Niedertracht in einen unleidlichen Fokus. Gezielte Brandmale wunden sich in geometrisch harten Formen und Linien über ihre helle Haut, als sei sie von einer grausamen Subart der Gree entführt worden. Sie bildeten Schaltkreise, Punkte und Striche, chirurgisch präzise mittels Lasern in einst makellose Fläche gebrannt. Die Bedeutung war ihr bewusst und genau das machte diesen Moment umso ungeheuerlicher. Ein Dauerzittern. Es war kalt und sie nackt. Die Erinnerung an die Hitze ihrer ersten Begegnung mit diesen Leuten ... diesen Gestalten ... half ihr nicht, sich wärmer zu fühlen.


Kettenrasseln erklang aus dem tiefdunklen Schatten dieser sterilen Kammer. Sie wusste nicht mehr, wo sie war. Die verschiedenen 'Meditationsschritte', wie sie genannt wurden, hatten ihr den Sinn für Zeit und Ort geraubt und alles das zu relativen Konstrukten irgendeiner vernunftlosen Welt gemacht, die durch selbsternannte Herren geordnet werden wollte. Nein, sie sah das Fundament des Simulakrums. Beständig murmelnd lief das dritte Mantra über ihre gerissenen Lippen: "Wir sind die Apologeten des Fortschritts. Wir sind die Apologeten des Fortschritts. Wir sind die Apologeten des Fortschritts. Die Evolution kommt durch uns."


Das hallende mechanische Geräusch mehrstimmiger pneumatischer Kolben, Ketten und Leitungen zog sich schleichend näher. Es war eine deformierte Gestalt, die in das Penumbra ihres Seins kroch. Langsam, beschwerlich, sie musste die Sünden des gesamten Kosmos auf ihren Schultern tragen. Und die junge, nackte Frau kroch ergeben zu Boden. Ihre wund geriebenen Knie hätten sie umbringen können. Sie konnte schwören, dass blutige Haut bis auf die Knochenscheibe abgerieben war und ihr eine Muskelanspannung des Gesichts aufzwang, das sie jäh verbarg, als die Stirn den Metallboden küsste. Völlige Ergebenheit an das groteske Geschöpf aus Maschine und Mensch. Auch sie war eine Frau, selbst wenn sie nichts mehr mit der Ergebenen gemein hatte. Unzählige kybernetische Exoverbesserungen kleideten sie in ein wulstiges, undynamisches Gestell eines Metallmutanten. Glaskolben durchstießen am Rücken ein nach Ölen und Salben stinkendes, schwarz-lilanes Gewand, das kaum noch einen Blick auf irgendwelche organischen Extremitäten ermöglichte. Die unzähligen Schläuche waren teilweise daran angeschlossen, liefen ihr in die Kapuze ihres Zeremonialgewands, verbunden sich mit ihrem Torso und schlängelten sich wie Fesseln an etliche, in die Wand eingelassenen Apparate.


Sie war es. Und sie war direkt mit der Gottmaschine verbunden.


Ein Anflug von Furcht und tiefer Reue, als verpeste sie selbst nur mit ihrer Anwesenheit die Aura der Figur durchstieß sie und ließ Schenkel eng aneinander drücken, den Rücken krümmen und ihre Arme stark zu sich gezogen anwinkeln. Sie war nicht mehr als ein Auswurf der kümmerlichen Menschengestalt in Gegenwart dieser heiligen Mechanoiden.


Die beiden anderen Ergebenen, die sich links von ihr gleichfalls nackt, gebrandmarkt und geschunden auf den Knien befanden versunken in ähnliche Haltungen. An den Rändern des Raums, kaum zu bemerken, bewegten sich vermummte Gestalten mit. Messdiener dieser Zeremonie, die von den Umnachteten, den Ketzern und Dämonen nicht verstanden würde. Und dann hörte sie das statische Knistern eines sich aktivierenden Vocoders. Sie sprach endlich zu ihnen und in ihrem Kopf war es der Klang einer erwärmenden Umarmung.


"Der transliminale Transit war erfolgreich, meine Jünger.", verkündete sie und erntete damit aus dem Hintergrund einen lauten Schlag des Idiophons. Wieder durchbohrte er die drei Köpfe der nackten Gestalten und rief die Reminiszenz an Bewusstsein hervor, bevor die Ermüdung oder der Schmerz sie endgültig heimsuchen konnte.
"Nun wird er durch mich zeigen, wer auserwählt ist. Lasst mich zum Gefäß seiner tiefen Leere werden. Lasst ihn, und nur ihn, den großen Verschlinger, Vater und Herr der Leere entscheiden, wessen Pfad sich mit seinen Energien kreuzen und in das apokalyptische Amalgam transferieren wird."


Ihre gebrechlichen Arme hievten sich in die Höhen und das nachfallende Gewand ihrer pompösen Ärmel glich einem einzigen Flügelschlag der Asche eines verglühten Phönix. Es war das Aufbäumen von schwachem Fleisch, das sein Heil in den unzähligen Maschinen und Gerätschaften fand. Ein beweglicher Sarg eines gestorbenen Körpers.



"IMINA. ZERAKUL. AMAZ. XEMER."



Zittrig stolperten einige Silben in der Beschwörung mit und es konnte nur eines bedeuten: Sie, eine der höchsten Dienerinnen, hatte ebenso Angst vor denen, denen sie ihr Blut anvertraute, wie die Aufgereihten. Stille. Ein Pumpen irgendeines Atemgeräts, Blubbern von Kühlflüssigkeiten und ein Zischen von Luftdruck an anderer Stelle. Die Messdiener nahmen Positionen ein, für jeden nackten Menschen einen Robenschatten in dessen Rücken. Kalte Griffe leblosen Leichtmetalls schlangen sich um die Ketten, die an den kruden Halsbändern befestigt waren. Ein Ruck für sie alle genügte, um die kauernden Positionen in die Höhe zu zwingen. Die Brust, sowohl bei den beiden Frauen als auch dem einen Mann, war bemalt. Kosmologische Zeichnungen, die sich um ein einziges, urteilendes Auge in der Mitte wimmelten. Sie alle sahen die stark veränderte Mechanoide an.


Ihre künstlichen Finger mündeten in spitzen, artifiziellen Nadeln. Wortlos streckte sie sie aus, entgegen des Kopfes des Mannes, um sich mit kleinsten Berührungen der Spitzen auf dessen Kopfhaut zu betten wie eine zehnbeinige Spinne. Ein dunkles Raunen flutete den Raum, außerweltliche Laute gegurgelt durch den Vocoder. Sie alle konnten schwören, dass die ohnehin schwache Beleuchtung sich verfinsterte, als weiche sie dem, was auch immer gerade in den Raum trat. Und dann gab es ein Knacken, die Kette in der Hand des Kultisten wirbelte herum, als der Mann aufschrie und den Kopf schüttelte, den Oberkörper, als wolle er sich von einem plötzlichen Parasiteneinfall befreien. Sein Geschrei übertönte alles im Raum. Die Nadelspitzen drangen in den Schädel, trieben sich bis in das Hirn und lösten spastische Zuckungen, entgleisende Muskeln und wirres lautes Gebrabbel aus. Es dauerte keinen weiteren Moment, da riss sie, dünne Blutfäden nach sich ziehend, die Nadeln wieder heraus und ließ den ersten Ergebenen behindert zurück.
Pragmatisch zog der Kultist hinter ihm eine Blasterpistole und exekutierte seinen leidenden Schützling. Leblos blieb der Körper in seinem Halsband hängen wie ein müder Hund, der seinem Herren nicht mehr folgen wollte.


Die Frau neben ihm war als nächstes an der Reihe. Gurgelnd, zuckend, die spitzen Seligmacher träufelten Blut, zog das Monstrum zu ihr. Das Gewisper hatte den Klang einer Umarmung völlig verloren. Es war nichts als Kälte und Härte dort, als flüstere sie die Urformel der Weltenentstehungen und der Natur in ihren schattigsten Seiten. Die Erzählung des letzten Schritts eines Zyklus voller niederschmetternder Erkenntnisse.
Wieder war ein dumpfes, leises Knacken zu hören, als sie Knochen durchbrach und Haut und Fleisch in ihrem Griff minimal umformte. Diese Frau ereilte das Schicksal des Mannes vor ihr. Sie wurde von ihrem Leid erlöst.


Schließlich kam die große Gestalt zu ihr. Ein kurzer Blick fiel auf ihre Schaltkreisbrandmarkungen, auf die Abdrücke von Schockstäben an ihrem Bauch, auf die Einschnitte an ihrer Brust. Sie hatten alles versucht. Und doch, wie die Priester es erzählten, war es der Wille, der die Welt zur Vorstellung formte. Sie konnte sich ihre eigene Welt so denken, wie sie es musste, um zu bestehen. Und das alles ergab einen matten Sinn, der ihren Kindesmärchen so fern war. Die Zerstörungen, die Morde, alles.


Kühl bettete sich diese schwere Hand auf ihren blanken Kopf. Es verstrichen Momente, die Herrin war sich uneinig, flüsterte nur vor sich her. "Negative Formel... Determinanten uneins... Verschiebung der Singularitäten ... Anathema ..."
Plötzlich regelte der Vocoder herunter und ihre Glatze wurde von der Klaue erfasst. In den Nacken gezwungen, von einer fremden Macht geleitet, starrten ihre dick umrahmten Augen in das Antlitz einer Tyrannin. Feinste Metallplättchen hatten sich verschoben und die Maske des Furchtgottes angenommen. Doch sie wollte standhalten. Und in dem Moment sprach sie lautlos das allererste Mantra: "Die Zyklen werden sich wiederholen, doch ich durchbreche sie."


"Sie ist es.", materialisierte sich final die tiefe, fremd klingende Stimme des Vocoders.
"Ihre Gestalt soll in mein Reich treten. Komm, Kind. Fülle das Ungeheure mit den Geschichten deiner Gattung."


Sie wusste, was es bedeutete und all die Anspannung, das Zittern, die Klammheit die ihren abgemagerten Körper befiel war nichtig. Sie würde mehr sein. Mehr als ein Gefangener hinter Fleischgittern.


Auch, wenn sie dafür auf eine schmerzvolle Reise musste.